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Im Drei Mädel-Eck

Warum es Drei Mädel-Eck heißt, wissen sie nicht. Aber eine Kneipe war hier, seit das Haus steht, hundert Jahre lang also mindestens. Da sind sich alle am Tresen einig. In den Schultheisstulpen unter dem Zapfhahn steigt Bierschaum auf. Und dann sagt einer: „Kennste noch den Einarmigen?“ „Aber klar“, sagt ein anderer. „Der war früher Inventar hier.“ Und dann lachen alle, so wie Leute lachen, die sich schon länger kennen. Und einer mit Schiffermütze sagt: „War ´n Bandit, der Einarmige!“ Ein Einarmiger Bandit, der früher im Gastraum stand.

Und auch wenn niemand ganz sicher ist, ob der antike Spielautomat nun links oder rechts neben der Eingangstür stand und ob die Musikbox so alt ist, wie sie aussieht oder doch nur ein Nachbau sei – sicher ist, dass das Drei-Mädel-Eck ein Stück lebende Moabiter Geschichte ist. Ein Tiefwurzler. Die hier sitzen, kennen nicht nur die Geschichten der anderen, die hier trinken, sondern auch die erzählten Legenden aus dem Viertel. Moabit sei eine Insel, sagt der mit der Schiffermütze, der sich „der Captain“ nennt. Sie sei nur über Brücken zugänglich. Von Norden her über den Westhafenkanal, von Osten über den Spandauer Schifffahrtskanal und von Süden über die Spree. Moabit, die Insel, sei in Berlin immer eine ganz eigene Welt gewesen, in der es zum Beispiel unvorstellbar viele Eckkneipen gab.

Drei-Maedel-Eck_TS-250Die Wirtin Elvira, die gerade ein Bier vom Zapfhahn nimmt, ist sozusagen in der Kneipe aufgewachsen. Als sie Kind war, erzählt sie, haben die Großeltern in diesem Haus hier gelebt und die Wirtsfamilie, die das Drei Mädel-Eck besaßen, wohnten eine Treppe unter ihnen. Im Hinterzimmer der Kneipe hat sie als Schülerin mit den drei Töchtern der Wirtsfamilie ihre Hausaufgaben gemacht. Erinnern kann sie sich an bärtige Männer, an Soleier, die es zu essen gab und an das ehrwürdige hölzerne Tresenbuffet, in dem noch heute in Reihen die Schultheißtulpen stehen. Die bärtigen Männer hätten grundsätzlich den Tresen belagert. Selbst wenn die Kneipe zum Bersten voll war, hätten sie diesen Platz am Quell des Biers und der Neuigkeiten um keinen Preis aufgegeben. An manchen Tagen bildeten sie um ihn zwei bis drei Reihen. Denn an Einzeltischen sitzt man in einer Eckkneipe nicht, höchstens um ein Solei zu essen oder als Familie oder als Liebespaar.

An Wochentagen, erzählt Elvira, hätte die damalige Wirtin schon um sechs Uhr in der Früh ihre Rollläden hochgezogen, um dem ersten Nachtschichtarbeiter nach seinem Feierabend sein Erfrischungsgetränk zu verabreichen. Auch aus der Markthalle sei in den Morgenstunden schon Publikum gekommen, Händler und Markthelfer. Die Arminiushalle sei noch ein „richtiger Markt“ gewesen, mit Lärm und mit Treiben, und um ihn herum häuften sich die Lokale.  Allein in der Jonasstraße, die nur acht Hausnummern zählt, habe es vier Kneipen gegeben, sagt der Captain, der gewaltige Hände hat. „Warst du einmal um die Markthalle rum, warst du besoffen.“ In der Vorstellung ersteht ein leicht schwankender Raum, der einem Alt-Berliner Bierhimmel gleicht, versunken wie Atlantis, nur dieser Tresen hier im Drei Mädel-Eck ist ein letztes Riff. Man hält sich an ihm fest, Elvira reicht frisch gezapfte Biere, man greift zu, trinkt vom Wunderelixier und hört weiter zu. Zum Beispiel Knut*, der in den sechziger Jahren hier und in anderen Kneipen Waschbrett spielte. Und dem „Captain“, der zur See fuhr, erst Maat und dann Schiffsführer wurde, bis Osaka und Wladiwostok reiste. Sein Heimathafen aber blieb immer hier.

Einer im Holzfällerhemd erzählt von seiner Möbelpackerzeit – einer neueren Zeit diesmal –, wobei die Zeiten im Drei Mädel-Eck ein nicht klar umrissenes Fluidum sind. Als Möbelpacker, sagt er, hätte er die Leute gesehen, die jetzt zuziehen. Als Meister des Erzählens legt er gleich eine Kunstpause ein. Sagt: „Studierte“, „aus Westdeutschland“ und: „Das könnt ihr euch nicht vorstellen“, schweigt, nimmt einen Schluck, und jeder stellt sich das Seine vor. Der im Holzfällerhemd verkehrt erst seit 20 Jahren hier. Ein Neuling also fast. Die Tür geht auf, zwei junge Männer mit Basecaps betreten das Lokal. Sie steuern einen Einzeltisch an. Der im Holzfällerhemd erhebt sich, prostet ihnen zu und setzt sich zu ihnen. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss sich der Berg eben zum Propheten begeben. Denn auch heute noch gelten hier die alten Regeln: In einer Eckkneipe sitzt man nicht allein. Jemand steht auf und wählt in der Musikbox einen Hit von den Bee Gees an. Die Bee Gees gehen immer, sagt Knut. Sie sind fast so sehr der Zeit enthoben wie das hölzerne Tresenbuffet. Die Bee Gees singen mit Kopfstimme „Staying alive“, und die Basecap-Träger kommen dann auch an den Tresen.

Text: Tina Veihelmann, Foto: Tanja Schnitzler

* Name geändert

Zuerst erschienen in der “ecke turmstraße“, Nr. 3, april / mai 2013

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