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Ein Brief aus der Stephanstraße 8, geschrieben im März 1945

Am 5. Geburtstag der ältesten Tochter, am 23. März 1945, einem Freitag, schreibt Heinz Geschwinde, der Diplom-Ingenieur bei Siemens war, an seine mit den Kindern nach Bad Bramstedt evakuierte Frau. Dies ist nur ein Brief von vielen, in denen er das Alltagleben während der Bombenangriffe im Stephankiez beschreibt und wie sorgfältig er sich müht die Schäden zu beseitigen. Stephan la Barré traf zufällig seine Töchter Almut Geschwinde und Gudrun Munzert beim Besuch in der Stephanstraße. Die beiden waren froh, sowohl ihre frühere Wohnung in der Stephanstraße 8 als auch die Räume der Kommune I in der Stephanstraße 60 besichtigen zu können. Nach diesem Berlin-Besuch schickten sie den Mietvertrag aus dem Jahre 1935, den Bericht des Vaters sowie einige Fotos.

In der LiesSte (Sommer 2013, S. 11) konnten wir nur kurze Ausschnitte aus dem Brief dokumentieren. Hier stellen wir den ganzen Text als Dokument zur Verfügung. Ein herzlicher Dank geht an Ingeborg la Barré für das Entziffern und Tippen der Handschrift:Briefanfang-250

Berlin, Freitag, 23.3.45.

 Mein geliebter Schatz !

Nun ist unsere Große schon 5 Jahre  alt geworden. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Ich kann mich noch gut der Stunde erinnern, da ich mit Dir zum ersten Male zum Kaiser-Auguste-Viktoria-Haus  ging und dort mit Dir auf dem Korridor spazieren gehen musste.

Ich habe gestern häufig daran gedacht, war aber auch ebenso oft in Gedanken bei Euch in Bramstedt und der Geburtstagsfeier, die – vom Standpunkt der Erwachsenen aus  gesehen – bescheiden genug  gewesen sein mag. Ich hoffe, dass Dir unsere beiden Kinderlein auch an Deinem neuen Aufenthaltsort außer der geringen Sorge um ihr Wohlbefinden nur Freude machen. Sag ihnen von ihrem Vati einen recht schönen Gruß.

Ich sitze wegen der Stromsperre beim Scheine der Petroleumlampe. Es ist zwar kein Petroleum drin, das ist vor 8 Tagen ausgelaufen, als die Bomben mir die Lampe umkippten, die aber sonst heil blieb.  Auf meine Klage hin füllte mir Frau Rise die Lampe mit Dieselöl, dass sie von ihrem Schwiegersohn bezieht, das brennt auch ganz gut.

Ich bin Dir noch einen eingehenden Bericht über die letzte Woche schuldig, und da ich beim besten Willen nicht mehr weiß, was ich Dir schon geschrieben habe, will ich nochmal zusammenfassen.

Beim Angriff am Donnerstagabend ( 15.3.) gingen in unserer nächsten Nähe nieder: je eine Bombe vor das Haus Stephanstraße 12 auf die Straße;  eine in das Eckhaus Quitzow-/Ecke Perleberger Straße gegenüber der Garagenecke;  eine auf die Fennbrücke,  an der sie so lange Jahre gebaut haben, so dass die Brücke jetzt gebrochen auf den Gleisen liegt.

Stephanstr_1945-aus-250Auf die Hinterhäuser in dem spitzen Winkel Stephanstraße 65 bis Perleberger Straße 14 ( im Gebiet des Durchgangs zu Schimmacks) ging eine Luftmine nieder und legte das Geflecht der Hinterhäuser in Trümmer, die jetzt einen Riesenschutthaufen  bilden.

Gottlob kamen alle Leute durch die Mauerdurchbrüche raus, es gab hierbei keinen Toten und nur einige Verletzte.  Schimmacks Vorderhaus und das Haus links daneben haben auch mit dran glauben müssen,  einen Laden Schimmacks gibt es nicht mehr.

Wir im Keller spürten die Erschütterung weniger, als ich bei dem geringen Abstand vermutet hätte; wir hatten aber im Nu die Luft voller Kalkstaub. Es stellte sich dann heraus, dass die uns gegenüber liegenden Häuser arg durchgepustet waren, aber auch bei uns waren die Luftdruckschäden erheblich, und zwar am schlimmsten in den mittleren  (2.und 3. ) Stockwerken. Bei uns waren natürlich nach der Straße zu alle Scheiben raus; da ich aber alle Fenster offen hatte, waren nur 2 Fensterrahmen leicht  angeknickt.  Nach dem Hofe zu hat es nur 2 Scheiben gekostet. Unangenehm waren die Türschäden. Noch in der gleichen Nacht kriegte der angebrochene Korridorsturz sein Korsett.

In dieser Nacht herrschte in allen umliegenden Häusern ein allgemeines Hämmern, um die Verdunklung kümmerte sich niemand.

Die Tür unseres Wohnzimmers war aus den Angeln gerissen und quer durchs Zimmer in das Fenster am Schreibtisch geflogen. Dabei hat sie das Oberteil des Schreibsessels  mitgenommen, sonst aber außer der Zerstörung einer Lampenschale keinen Schaden angerichtet. Eigenartigerweise haben die Glassplitter genau den entgegengesetzten Weg zur Türseite  des  Zimmers  genommen, wo sie in hellen Haufen im Holz des Notenschranks und des Flügels steckten. Auch der Bücherschrank hat vom Glas allerhand Schrammen abgekriegt.

Die Krone war aus der Aufhängung gehoben und baumelte an einem feinen Drähtchen. An der Flügeltür zwischen Wohn- und Schlafzimmer waren nur die Angeln verbogen und an der Unterseite zwei Stücke herausgerissen.

Die Schlafzimmertür war mit ihrem breiten Rahmen aus der Mauer gerissen und lag quer über dem Korridor bis in die Küchentür hinein; sie versperrte jeden Durchgang. Der Rahmen war natürlich arg gesplittert. Der Rahmen der Tür zum Gastzimmer war um 15 cm in den Korridor hinein verschoben und der Hängeboden im Korridor hing auf der rechten Seite ein Stück herunter.

Stephanstr_1970-250Die aus Gipsplatten bestehende Wand zwischen Küche und Bad war mit der Tür um 20 cm nach der Küche zu verschoben und stand schräg, so dass die (ganz gebliebene) Tür nicht auf und zu ging. Gottlob war die Wand nicht zusammengefallen.

Von der Decke war in allen Zimmern der Putz in großen Fladen runtergefallen, so dass die Wohnung auch restlos verdreckt war.

Du siehst, dass die Schäden im wesentlichen die Wohnung, weniger unsere Einrichtung betrafen. Es ist z.B. alles Geschirr heil geblieben.

Da Arbeit genügend vorhanden war, bin ich am Sonnabend nicht ins Geschäft gegangen, sondern habe angefangen zu reparieren. Zuerst waren natürlich die Fenster dicht zu machen und die Verdunklungen zu reparieren. Pappe gab es nicht trotz Anstehen; sie war alle, nachdem ich eine gute Stunde am Baubüro auf  der Salzwedeler Straße angestanden hatte. Aber am Sonnabendabend erwischte ich bei einem Glaser auf der Quitzowstraße mit Hilfe von Anstehen 17.30 bis 20 Uhr vier Scheiben.  Ich war heilfroh.

Gott sei Dank kam ich nicht mehr dazu, sie am gleichen Abend einzusetzen.

Am Sonntag früh war Volkssturmdienst.  Antreten zur Vereidigung! Anschließend wurden die, die Bombenschaden hatten, anständigerweise nach Hause entlassen. Und so kamen wir gerade zu Hause an, als um 10 Uhr die Sirenen zum Großangriff gingen. Der reine Angriff ohne die Wartezeit währte 1½ Stunden; während früher zwischen den Anflügen der einzelnen Wellen kurze Pausen lagen, ging diesmal die Sache pausenlos vonstatten.

Hauptangriffsgebiet die Stadtteile nördlich der Stadtbahn. Während dieser Veranstaltung hörten wir einen Bombenteppich in der Nähe rauschen, hatten aber bei den Einschlägen nicht den Eindruck, dass wir unmittelbar betroffen seien. Jedenfalls war meiner Empfindung nach die Erschütterung nicht so stark wie zwei Tage vorher bei der Luftmine.

Mietvertrag_1935-250Ich blieb deshalb erst mal ruhig auf unserem gewohnten Stammplatz nächst dem Notausstieg sitzen. Nach wenigen Sekunden empfand ich aber deutlich den Geruch nach verbranntem Pulver, und ich machte die im Kellergang stehenden Männer heimlich darauf aufmerksam.

Wir versuchten daraufhin einen kurzen Blick nach draußen zu werfen, das war aber unmöglich, denn als wir die Tür zur Kellertreppe aufmachten, war die Treppe und der Hofraum mit derart dichtem Qualm und Rauch erfüllt, dass man auch mit Gasmaske nicht heraus konnte. Denn trotz des hellen Tags sah man keine 30 cm weit. Wir mussten eine Weile, vielleicht 10 Minuten, die uns ewig vorkamen, warten, dann hielten wir im Hof und auf der Straße einen kurzen Rundblick, der uns zeigte, dass bei uns anscheinend nichts brannte, dass aber eine Sprengbombe auf das Vorderhaus der Nr.7 gegangen war. Im obersten Stock des Hinterhauses von Nr.7 brannte es, der Brand wurde aber von deren Hausgemeinschaft bald gelöscht.

Wir konnten den Schluss des Angriffs im Keller abwarten. Die Frauen, die aufmerksam geworden waren, mussten natürlich beruhigt werden.

Hinterher stellte sich folgendes heraus: Wir lagen am Rande eines Bombenteppichs, der sich in etwa einem Kilometer Länge von uns aus die Lehrter Straße entlang bis zur Seydlitzstraße und in ½ Kilometer Breite  vom Bahngelände über das Poststadion und die zahlreichen Heeresämter (Bekleidungsamt, Pferdelazarett usw.) am Moabiter Exerzierplatz erstreckt.

„ Unsere“ Bombe ist ins Dach von Nr.7 eingeschlagen, ist durchs Dachgeschoss, 5., 4., und 3. Stock gedrungen und dort explodiert. Sie hat also den größten Teil der Stockwerke weggerissen und das zweite Stockwerk arg verwüstet. Von der Straße aus sieht man nur ein Loch von 5 Meter Durchmesser in der Hausfront, das Haus ist nach der Hofseite zu weggerissen. Im Hof liegt daher ein Riesenschuttberg. Der Verkehr zum Hinterhaus von Nr.7 geht deshalb über unseren Hof und den Durchbruch in der Hofmauer.

Unser Haus wurde von der Bombe mit angeschnitten, und zwar ist im Dachgeschoss Waschküche und Trockenboden weg.  Im 5. Stock ein Zimmer der Wohnung von  Frau Kagischke. Im 4. Stock ist von Böhnkes Wohnung auch ein Zimmer und die halbe Küche weg. Es handelt sich um die Zimmer, die über unserem Gastzimmer liegen. Bei Schimorskis ist dies Zimmer noch ganz, wenngleich das Mauerwerk Risse hat. Hoffentlich gibt es an dieser Stelle bei schlechtem Wetter nicht mal Witterungsschäden.

Eigenartigerweise waren in den nicht betroffenen Wohnungen die Luftdruckschäden nicht sehr arg. Z.B. sind bei unserer Wohnung die Fensterscheiben der (gottlob geöffneten) Fenster von Küche und Gastzimmer heil geblieben. Grauenvoll  aber war die Verschmutzung. An allen Stellen der Wohnung, auf jedem Stück lag ein dichter, weicher, 3 bis 4 mm dicker Pelz von Mörtelstaub, der so fein war, als ob man einige Säcke Zement ausgeschüttet hätte.

Man wusste nicht, wo man hin greifen oder hin treten sollte, denn jede Bewegung erzeugte eine dichte Staubwolke, die sich in der Nachbarschaft wieder niederließ. Diese Verschmutzung im Verein mit den Schäden vom Donnerstagabend machten die Wiederherstellung der Wohnung zur Qual.

Vorerst war am Sonntagnachmittag und Abend an die eigenen Interessen gar nicht zu denken, denn der Selbstschutz musste ran, da das Haus gegenüber (mit dem Gemüseladen) lichterloh brannte. Da unsere Hydranten leer waren, mussten wir die Schlauchleitung von der Rathenower Straße her legen. Da beim gleichen Angriff eine Bombe in die Luftschutzschule (Nr.6o) gegangen war, wo unser Löschmaterial lagert, waren 2/3 der Schläuche unbrauchbar, meist durch Splitterwirkung.

Ehe wir einen leidlichen Wasserstrahl hatten, war das Haus nicht mehr zu retten, es ist vollkommen heruntergebrannt. Durch eine Menge Stabbrandbomben war der von der Luftmine herrührende Trümmerhaufen hinter der Häuserfront in Brand geraten. Das Feuer fraß sich in den Keller des nächsten Hauses, links von dem mit dem Gemüseladen. Ein von unten brennendes Haus ist mit den Mitteln des Selbstschutzes nicht zu retten. Es brannte bald wie eine Fackel und ist dann in der folgenden Nacht mit großem Getöse zusammengestürzt. Vorher hatte es noch am Nachmittag den Dachstuhl des links angrenzenden Hauses in Flammen gesetzt.

Inzwischen war ein Löschzug eingetroffen, so dass von diesem Haus (dem letzten vor dem Eckhaus) nur dieser Dachstuhl und das oberste Stockwerk den Flammen zum Raube fielen. Ich beteiligte mich nach den vergeblichen Löschversuchen an der Bergung von Hausrat aus den brennenden Häusern und an der Rettung des Dachstuhls des stark gefährdeten Eckhauses (mit dem Kindergarten). Das gelang auch mit den Mitteln der Hausgemeinschaft, Eimerkette und Handspritze. Was ich dabei aber an mangelnder Hilfsbereitschaft umher lungernder Straßenpassanten erlebt habe, die ich auch mit Hilfe von Polizei und Partei nicht zur Eimerkette heran kriegte, gehört auf ein besonderes Blatt.

Am Montagvormittag mussten wir paar Männer von der Hausgemeinschaft aus Böhnkes Wohnung Schutt beseitigen, um die Belastung nicht mehr genügend abgestützter Balken zu verringern. So kam ich erst am Montagmittag dazu, mich um die eigene Wohnung zu kümmern. Und da ich zu jedem Handgriff allein war, war die Wiederherstellung ein hartes Stück Arbeit. Nur bei der Reparatur der zwei schlimmsten Türen, mit denen ein Mann allein nicht fertig werden konnte, half mir Herr Finder freundlicherweise ein paar Stunden am Dienstag.  Auch am Mittwoch und am Donnerstag Nachmittag habe ich im Geschäft blau gemacht, heute war ich zum ersten Mal wieder ganztägig dort.

Ich habe die Wohnung  jetzt wieder besenrein; an den Türen fehlen zwar noch einige Beschläge und dergl., aber das hat  Zeit. Dreckig ist es natürlich noch mächtig, ich habe wohl gegen 20 Eimer Schutt aus der Wohnung geschafft. Durch die großen Trümmerhaufen im Hofe , schmutzt auch alles wieder schnell ein, auch ist das Treppenhaus noch ein einziger Dreckstall.

Im Gegensatz zu vielen anderen Wohnungen sind die Lichtverhältnisse bei mir noch geradezu ideal: Im Wohnzimmer sind die Oberlichtfenster und der linke Flügel des Fensters am Schreibtisch mit Pappe vernagelt, die als alte Reste  noch von Frau Spruch her im Keller lagen. Der rechte Fensterflügel und die Balkontür haben Glas. Allerdings sind alle Innenfenster ohne Glas. Reserve ist also keine vorhanden. Im Schlafzimmer waren ja die Innenfenster herausgenommen und lagen unter dem Flügel, dort sind sie heil geblieben. So sind jetzt im Schlafzimmer die Außenfenster ohne Glas und ich habe alle Innenfenster eingesetzt. In der Küche ist das Oberlicht aus Pappe, die unteren Fenster sind heil. Im Gastzimmer sind alle Scheiben heil.

Ich bin froh, dass die Postverbindung zwischen uns noch so einigermaßen klappt, bis jetzt ist noch nicht mal etwas verloren gegangen. Ganz herrlich war ja die Laufzeit deines Briefes 3 mit nur 3 Tagen. Der Brief 1 brauchte 10 Tage,  die Karte 2 nur 8 Tage. Dein Brief 4 brauchte 6 Tage und gestern kam deine Karte 5 an,  auch 6 Tage unterwegs. Du siehst, es ist alles eingetroffen. Hab vielen Dank für deine lieben und stetigen Berichte.

Die Fleischmarken habe ich mit Freuden kassiert. Sei nur vorsichtig  mit deinen paar Marken, es ist jetzt sowieso auch für eure Mägen nicht mehr zu viel. Kaufe alles, was du kriegen kannst, und versuche, Dir einen Vorrat an Kartoffeln und Dauergemüse anzulegen. Ich sehe die Zeit kommen, wo man weder für Marken noch für Geld noch gegen Silberbestecke etwas zu essen kriegen wird, wo nur das Essbare allein noch Wert hat.

Sollten die Pakete gut bei dir ankommen, so wirst du Schnaps und Zigarren darin finden. Die habe ich nicht reingepackt um die Pakete auszufüllen, sondern erfahrungsgemäß sind viele Leute auch heute noch bereit, für Spirituosen und Rauchwaren ihre Seligkeit und dazu Lebensmittel herzugeben. Hier gilt eine Flasche Schnaps augenblicklich 3 Brote. Ich habe also diese als unnötig erscheinenden Dinge mit Vorbedacht mit eingepackt. Du sollst sie als nicht verschimmelnden Lebensmittelvorrat für die Zeit großer Not aufheben.  Natürlich kannst du frei darüber verfügen und darfst auch ruhig mal unserem Schwager Walter etwas anbieten.

Walters Meinung über Euer Verhalten im Ernstfalle ist auch die meine. Auch ich mache mir über den Ausgang des Krieges keine Illusionen, und den größeren Teil von Deutschland wird zum Schluss der besetzen, der schneller laufen kann. Hier wird von Leuten, die in Yalta auch nicht dabei waren, gesagt(?) dass der Russe bis zur Elbe strebe. Jedenfalls ist meine Meinung, dass eine Wahrscheinlichkeit, sich nach dem Kriege wiederzufinden, nur gegeben ist, wenn man nicht dem Russen, sondern  den Amerikanern in die Hände fällt.

Da Ihr Lieben das Teuerste seid, was ich auf der Welt besitze, möchte ich Dich bitten, Dein Verhalten wenn möglich nur hiernach zu richten, d.h. im alleräußersten Notfalle auch unter Preisgabe der beweglichen Habe dem Russen vom Leibe zu bleiben.

Ich kann mir ohne Schaudern ein Leben in Not und unter Entbehrungen vorstellen, nicht aber ohne Dich und die Kinder, die Ihr der ganze Sinn meines Daseins geworden seid.

Sicherlich werden Lene und Du zusammenhalten, und Walters Ratschläge werden Euch behilflich sein.

Frau Jenke hat seit der Einberufung ihres Mannes (ich glaube im Dez.) nichts mehr von ihm gehört. Da sie auch nicht seine Einheit kennt, kann sie gar nichts unternehmen, um etwas über ihn zu erfahren.

Auch wir müssen damit rechnen, dass wir einmal längere Zeit ohne Nachrichten voneinander bleiben. Ich bitte Dich, dann nicht den Kopf hängen zu lassen, meist sieht alles schlimmer aus, als es ist. Wenn ich auch nicht über mich bestimmen kann, werde ich auch versuchen, den Russen nicht ins Garn zu gehen. Sollten wir einmal nichts voneinander wissen und der Frieden eines Tages anbricht, dann müsste eine gegenseitige Suchaktion von bekannten heil gebliebenen Anschriften ausgehen, ich denke da an Berlin, Zittau, Nicollschwitz, Bad Lansick, Bad Bramstedt, Zehdenick.

Vielleicht wird alles viel harmloser, als wir denken. Genießt nur erst mal den schönen Frühling in Eurem ländlichen Städtchen.  Nach dem Zeitungsausschnitt scheint ja Euer Kindergarten recht in Ordnung zu sein. Ich freue mich, dass unsere Lütten wieder auf dem Posten sind . Fein ist es, dass  Du wieder ein Lesebuch für die Dämmerstunden hast, das macht den Kindern sicher viel Freude.

Ihr armen Kerle habt mehr Alarm wie wir. Aber ich bin trotzdem ziemlich beruhigt, einen regelrechten Angriff dürftet Ihr kaum zu erwarten haben. Ich bin heilfroh, dass Ihr aus Berlin raus seid, die beiden letzten Angriffe waren um Mitternacht, das ist eine hässliche  Zeit für Kinder. Hier werden jetzt doch Transporte für Mütter mit Kindern zusammengestellt. Frau Schiebel hat sich schon erkundigt, sie wird voraussichtlich nach Weißenfels kommen.

Die Milchkarte habe ich Dir m.W. schon bestätigt. Zum Anmelden war es zu spät , die Kartenstelle weigerte sich, mir einen Stempel ohne Vorlage der Stammkarte drauf zu machen. Herr Gast hat ihn mir noch bei einer anderen Kartenstelle besorgt. Ich kriege also meine Milch regelmäßig, sogar am Angriffssonntag kam sie noch am Nachmittag.

Herzlichen Dank für die Autobusfahrpläne. Du bist halt doch ein rechter Optimist. So gern ich möchte, weiß ich doch nicht, wie ich zu Euch kommen sollte. Das Reisen ist äußerst erschwert und wird nur in den dringendsten Fällen genehmigt. Mach Dir bitte keine Illusionen, ich muss sie doch enttäuschen.

Ich habe Euch ganz lieb                         Dein Heinz

Fotos aus der Stephanstraße 1945 und 1970, Brief von 1945 und Mietvertrag von 1935.

Ein Kommentar auf "Ein Brief aus der Stephanstraße 8, geschrieben im März 1945"

  1. 1
    Dani says:

    Vielen Dank für dieses Zeitdokument. Es ist sehr interessant, mal aus so persönlicher Perspektive über die Geschehnisse zu Kriegsende zu lesen.

    Mich würde allerdings noch brennend interessieren, wie es mit der Familie weiterging. Musste Heinz einrücken, wie hat man sich wiedergefunden etc.

    Falls es dazu noch mehr Informationen gibt, würde ich mich sehr darüber freuen.

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