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Schüler langweilen – das ist das Schlimmste

Das Wunder von Moabit

Unter dieser schönen Überschrift hat die Süddeutsche Zeitung auf ihrer prominenten Seite drei eine Reportage über die Heinrich-von-Stephan-Schule veröffentlicht. Seit dem gehen immer mehr Anfragen von bayrischen Lehrern ein, wie denn das Konzept im Einzelnen funktioniert. Aus Berlin oder der näheren Umgebung hat sich bisher dafür noch niemand interessiert. Aber das, so Rektor Jens Großpietsch, ginge anderen reformpädagogischen Schulen genau so, das Interesse komme eher von weit her. Keine Handys, kein Kaugummi, keine Baseballkappen im Unterricht, stand in der Zeitung und als ein Wunder wurde auch wahrgenommen, dass die Schüler das akzeptieren und wieder Spaß am Lernen haben. Dabei geht es doch nur um die Umsetzung von Binsenweisheiten. Jens Großpietsch: „Ohne äußere Ordnung gibt es keine innere Ordnung.Was aber nicht damit gemeint ist, sind Gehorsam und Drill. Es geht nur um bestimmte Grundregeln für das Zusammenleben von 300 Menschen“. Pünktlichkeit und Freundlichkeit – „Wir erwarten als Lehrer von den Schülern nicht, zuerst gegrüßt zu werden.“ Das ist so einfach wie plausibel. Doch interessant ist das Modell Heinrich-von Stephan-Schule aus ganz anderen Gründen …

Die reformpädagogische Heinrich-von-Stephan-Schule

Jens Großpietsch-250Es gibt Leute, die wollen deshalb nicht nach Moabit ziehen, weil sie vermuten, dass die Schulen hier „überfremdet“ und deshalb mit der Aufgabe, ihre Kinder zu belehren, überfordert sind. Es gibt aber auch Eltern aus Wilmersdorf und Charlottenbug, aus Reinickendorf und sogar aus Mariendorf, die ihre Kinder auf eine Haupt- und Realschule mitten im Stephankiez schicken. „Wir haben mehr Anmeldungen, als wir aufnehmen können“, sagt Jens Großpietsch, Rektor der Heinrich-von-Stephan-Schule. Etwas läuft hier anders, und das offenbar mit Erfolg.

Seit den Ergebnissen der Pisa-Studien wissen Bildungspolitiker wie Lehrer, dass etwas getan werden muss. Bald werden Kommissionen am runden Tische Platz nehmen und diskutieren, Vorschläge ausarbeiten und an die politischen Gremien weiterleiten, dort werden die erneut kontrovers diskutiert und auf einen Kompromiss, den kleinsten gemeinsamen Nenner, zurückformuliert und schließlich, wenn alle Kompetenzen zwischen Bund und Ländern ausgerangelt sind, beschlossen und umgesetzt werden. So weit so gut, was sein muss, muss sein. Doch was bis dahin? Wie viele Jahrgänge oder gar Generationen haben schlicht Pech gehabt, vor den Reformen zu Schule gehen zu müssen?

Jede Woche ein Gedicht

In einer Klasse lernen durchschnittlich 23 Schüler, und  als ob das noch nicht sensationell genug ist, werden diese 23 Schüler auch noch in den Fächern Deutsch und Mathematik in jeder Stunde von zwei Lehrern betreut.

Bis zur achten Klasse lernen die Schüler jede Woche ein Gedicht. Warum ist das so außergewöhnlich? Im Sport ist es jedem einsichtig, dass im Wettkampf niemand bestehen kann, wenn er vorher nicht trainiert hat. Das Auswendiglernen von Gedichten – eine Zeit lang sprach man vom stupiden Auswendiglernen – ist aber nicht nur ein enormes Training der Gedächtniskondition, diese Übung garantiert auch, dass jedem Schüler mindestens einmal pro Woche eine gewisse Portion gedichtete Sprache durch den Mund geht. Da maqg schon manche Wendung im Hinterkopfe hängen bleiben, so etwas bildet. Aufgesagt werden die Gedichte dann nicht vor der ganzen Klasse, sondern in einem gesonderten Raum, so müssen sich nicht alle Schüler über zwanzig mal anhören, wie ihre Mitschüler ein Gedicht aufsagen. Das wäre ja langweilig. Und „das schlimmste, was man machen kann, ist Schüler zu langweilen“, sagt Jens Großpietsch.

Haupt- und Realschüler in einer Klasse

In der Heinrich-von-Stephan-Schule lernen Haupt- und Realschüler zusammen. Das hört sich nach Gesamtschule an, doch das Wort ist von allerlei misslichen Erfahrungen besetzt. Gesamtschulen, weiß man, sind unübersichtliche Großbetriebe mit über tausend Schülern, in denen auf Klassengemeinschaften zu wenig Wert gelegt wird und sich die Schüler in der Anonymität verlieren. Die Moabiter Schule hat derzeit rund 280 Schüler, das können in den nächsten Jahren durchaus noch mehr werden, aber, so Großpietsch, ganz sicher nicht über 350.

Haupt- und Realschüler in einer Klasse? „Wir müssen genau gucken, was die Schüler können. Wenn einer neu zu uns kommt, machen wir einen Eingangstest, und ein Jahr später gucken wir, was er dazu gelernt hat“, sagt Großpietsch „der Lernzuwachs interessiert uns mehr als die Note. Und von Halbjahr zu Halbjahr entscheiden wir, ob einer Haupt- oder Realschüler ist.“ Da kann einer absteigen, da kann einer aber auch wieder aufsteigen. „Die reine Hauptschule führt für Schüler in die Sackgasse, sowohl für die guten wie für die schlechten“. Lehrer, sagt er, haben immer die falschen Schüler vor sich. Doch sie haben immer die Schüler vor sich, die unterrichtet werden müssen. „Wenn ein Schüler nicht mehr Realschüler sein kann, geben wir ihn nicht ab, dann wird er eben Hauptschüler und bleibt bei uns. Wir werden auf jeden Fall weiter mit ihm auskommen müssen.“ So hat jeder Schüler bis zum Ende der zehnten Klasse die Chance, den Realschulabschluss zu machen.

Es ist ja nicht gesagt, dass das Modell der Heinrich-von-Stephan-Schule die einzige Antwort auf die Bildungskrise ist, natürlich nicht. Aber den Schülern dieser Schule kann es eigentlich egal sein, wie lang der Denk- und Entscheidungsprozess zur Reform des Bildungswesens dauert, sie lernen jetzt schon nach Regeln, von denen einige vermutlich in ein paar Jahren politisch beschlossen werden.

Schule_NeuesUfer-200Der bauliche Zustand der Schule macht Jens Großpietsch allerdings Sorgen. Vor 17 Jahren wurde das letzte mal renoviert. „Früher wurden regelmäßige Baubegehungen gemacht und danach die Mängel beseitigt. Heute geschieht das nur noch, wenn die Mängel eine Unfallgefahr darstellen. Doch gerade in einem sozial belasteten Gebiet müssen Schulen auch baulich ansprechend sein.“ Wohl wahr.

Text von Burkhard Meise, zuerst erschienen in: stadt.plan.moabit, Nr. 26, Februar 2005

Nachtrag:
Mittlerweile ist die Heinrich-von-Stephan-Schule ans Neue Ufer umgezogen und eine Gemeinschaftsschule geworden. Das heißt, Schüler können dort bald auch das Abitur machen.

Artikel aus der Berliner Zeitung: „Der Pisa-Versteher„.

Interview mit Jens Großpietsch im Tagesspiegel: „Schlechte Schulen sollte man schließen!“ und in der Berliner Zeitung „Provokante Thesen eines Berliner Schulleiters„.

Und beim Bildungsreporter, bei Youtube der Bericht über die Streikaktion von Mai 2013, auch die Volksinitiative „Schule in Freiheit“ hat er unterschrieben.

Interview im Tagesspiegel: „Längeres gemeinsames Lernen hilft“.

Nach der Pensionierung will Jens Großpietsch eine freie Schule für Moabit gründen (Tagesspiegel).

Er ist Pädagogischer Berater der Freudenberg Gemeinschaftsschule, die initiiert wurde von seinem Schüler Nizar Rokbani.

Portrait der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule von April 2018 mit Schulleiterin Christine Frank.

6 Kommentare auf "Schüler langweilen – das ist das Schlimmste"

  1. 1
    Hakan Bicer says:

    Hallo Herr Großpietsch ich habe mal so in Google Bilder nach geschaucht unter „Großpietsch“ und plötzlich kam da namens Jens und ihr Bild hätte das nie gedacht.

  2. 2
    Redaktion says:

    und wieder ist die Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule ein positives Beispiel:
    http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/berlin/322130/322131.php

  3. 3
    Ute Kleidt says:

    Guten Tag,
    Unsere Tochter geht hier zur Schule.
    Und sie geht hier sehr gerne zur Schule!
    Ich habe daher allen Grund hier einmal: DANKE! zu sagen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Ute Kleidt

  4. 4
    Susanne Torka says:

    noch bis zum 28. Oktober läuft die Volksinitiative „Schule in Freiheit“:
    http://www.schule-in-freiheit.de/773.html
    auch Jens Großpietsch hat unterschrieben:
    http://www.schule-in-freiheit.de/801.html?&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1328

  5. 5
  6. 6
    Netzgucker says:

    Portrait der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule von April 2018:
    https://www.ganztagsschulen.org/de/26600.php

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