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Eine Straße mit Ecken und Kanten

„Die Moabiter können stolz auf die Turmstraße sein, die sie zu Recht als ihren Kurfürstendamm bezeichnen“, heißt es in einem Rundfunkbeitrag aus dem Jahre 1964. Damals schlenderten gutgekleidete Herrschaften in Hut und Pelzmantel über den Prachtboulevard, in dem sich ein namhaftes Fachgeschäft an das andere reihte. Diese Zeiten sind vorbei. Heute wird Moabits wichtigste Einkaufsstraße mit Drogenhandel, Bandenkriminalität und Niedergang assoziiert. Doch wer genauer hinschaut, entdeckt eine Straße mit ganz eigenem Charme, geprägt von Menschen mit Ecken und Kanten.

Da ist zum Beispiel Optikermeister Wolfgang Golücke, der einmal im Jahr seinen Laden leerräumt, um ein Jazz-Konzert zu veranstalten. Gerammelt voll ist es dann, serviert werden selbstgemachte Buletten und Weißweinschorle. Der agile 82-Jährige, der sich rühmt, dass er in seiner Jugend mal mit Ella Fitzgerald ein Bier trinken war, geht auf Anti-TTIP-Demos und hätte seinen Laden am liebsten direkt neben Fielmann. In Sachen Qualität könne ihm niemand etwas vormachen. Golücke betreibt das Geschäft in der Turmstraße seit über 40 Jahren. „Wissen Sie, ich bin ein richtiger Kiez-Optiker, der Laden ist meine Bühne, und ich bin Hauptdarsteller und Kameramann in einem.“ Fast die ganze Welt habe schon bei ihm auf dem Stuhl gesessen, um sich eine Brille anfertigen zu lassen, darunter auch eine „Indianerin“. Weinenden Kindern, die unbedingt eine Brille wollen, schenkt er schon mal ein Kindermodell ohne Glas. So auch dem vierjährigen Mädchen, das eigentlich nur seine Oma begleitete. „Emilie sagt Danke“, steht auf dem Foto, das er ins Regal gestellt hat – zusammen mit anderen Karten von dankbaren Kunden. Der gebürtige Moabiter erinnert sich noch gut an die Zeit, als es hier zahlreiche Fachgeschäfte für Möbel, Haushaltswaren und Damen- und Herrenoberbekleidung gab.

„Das war mal eine wunderbare Einkaufsstraße mit viel Flair“, sagt Golücke. Heute sei es nur noch eine „Fressmeile“, die Vielfalt fehle. Verantwortlich dafür seien auch die Hauseigentümer: „Die verlangen Mieten, die nur noch große Ketten oder Spielcasinos bezahlen können.“

Kurzes Stelldichein der Bonner

Nur ein paar Häuser weiter schätzt man die Lage anders ein. „Die Bonner ziehen wieder weg“, hat Bernhard Prumbs, Inhaber eines Lampenladens, festgestellt. Nach dem Regierungsumzug Ende der 1990er Jahre hatten sich viele Bundesbeamte hier eine Wohnung gesucht – nur um dem Viertel nach kurzer Zeit wieder den Rücken zuzukehren. Zu schmuddelig und zu viel Multikulti, lautete das Urteil. Doch seit ein paar Jahren hat sich Moabit verändert. Die Menschen, die jetzt hierherziehen, haben Geld. Es sind zum Beispiel Amerikaner und Norweger, die sich an der Spree eine Eigentumswohnung leisten. Und wenn es dann ans Einrichten geht, kommen sie immer öfter zu Bernhard Prumbs in sein „Lichthaus Moabit“. Ganz allmählich mache sich das am Umsatz bemerkbar, auch wenn das Geschäft nicht mehr fünf oder sechs Leute ernährt wie in den 1950er Jahren.

Als Bernhard Prumbs um die Jahrtausendwende den Laden übernahm, hatte der Abwärtstrend die Straße schon voll erfasst. „Ich kämpfe seit 17 Jahren für die Turmstraße“, erklärt der quirlige Geschäftsmann. Zu seiner Kundschaft gehören sowohl alte Damen, die sich die Ware liefern und anschließen lassen, als auch junge Leute, die auf dem Flohmarkt eine Leuchte aus den 1960er Jahren erstanden haben und dann zu Hause feststellen, dass sie nicht funktioniert. „Mein größter Feind ist das Internet, nicht die großen Ketten“, sagt Prumbs. Dagegen helfe nur gute Qualität und Service. Das neue Einkaufszentrum, das zurzeit auf dem Gelände der ehemaligen Schultheiß-Brauerei in der Turm-, Ecke Stromstraße gebaut wird, sieht er nicht als Bedrohung – im Gegenteil: „Das könnte wie ein Magnet wirken und auch Bezirksfremde herlocken.“

Leer wirkt die knapp zwei Kilometer lange Turmstraße eigentlich nie, abgesehen vom östlichen Ende mit der Justizvollzugsanstalt. Je weiter man sich dem Rathaus nähert, desto lebhafter geht es zu. Das westliche Ende, wo die Turmstraße in die Huttenstraße übergeht, hat sich zu einem „Klein-Libanon“ entwickelt mit jeder Menge arabischer Imbisse und orientalischen Süßigkeiten-Läden. Zur Mittagszeit wird es hier richtig voll. Geschäftsstraßenmanager Georg Thieme vom Büro für Stadt- und Regionalentwicklung „die raumplaner“ sieht in der „ethnischen Gastronomie“ einen der Pluspunkte der Straße: „Wir haben Gastronomen, die sich wirklich Mühe geben, und wir haben ein sehr vielfältiges, preiswertes Essensangebot.“ Bestes Beispiel: das kürzlich eröffnete Burger Up, das neben frisch gemachten Hamburgern und Bäckerei-Brötchen mit einem pfiffigen ökologischen Verpackungskonzept aufwartet.

Gastronomische Ethno-Vielfalt

Dass die Turmstraße einmal bessere Zeiten gesehen hat, wird niemand bestreiten. „Unsere größte Baustelle ist der fehlende Branchenmix“, sagt Geschäftsstraßenmanager Thieme. Auch das Angebotsniveau lasse zu wünschen übrig. Aktionen wie das zweimonatliche Frühstückstreffen der Gewerbetreibenden oder der Eigentümer-Stammtisch sollen die Vernetzung voranbringen. „Ein ganz wichtiges Thema ist die Mietpreisgestaltung, aber leider können wir die nicht beeinflussen“, erklärt Thieme. Die Einbindung der Hauseigentümer gestalte sich schwierig, dabei spielen sie eine ganz große Rolle bei der Schaffung eines attraktiven Branchenmix. Erstaunlicherweise hat Moabit im Berliner Aufwertungszirkel lange geschlafen. Erst seit drei oder vier Jahren, sagt Georg Thieme, sei eine gewisse Gentrifizierung spürbar. Untrügliches Zeichen: Zwei Biosupermärkte haben sich niedergelassen.

Zu den neuen schicken Läden, die am Anfang durchaus misstrauisch beäugt wurden, gehört die „Garcia Kaffeebar“ in der Waldstraße Ecke Turmstraße. Hier sitzen hippe, englischsprechende Menschen vor dem Laptop. Aber auch alteingesessene Anwohner fühlen sich offenbar willkommen. „Wenn ich meinen Mann im Pflegeheim besuche, bringe ich ihm immer frisch gepressten Orangensaft von hier“, erklärt eine alte Dame mit Rollator. Man freue sich über eine gemischte Kundschaft, von Anwohnern aller Altersgruppen bis hin zu Touristen, erklärt Konrad Finsterbusch, der den Laden mit seiner Partnerin Marila Garcia betreibt. Beide wohnen ganz in der Nähe. Ein gutes Café hatte ihnen im Kiez gefehlt, und so eröffneten sie 2014 das Garcia. „Wir merken schon, dass sich die Klientel verändert, die Wohnungen und die Gewerbemieten werden teurer, und einige geraten unter die Räder.“ Doch insgesamt fände eine Entwicklung statt, die dem Kiez guttue.

Kleiner Kudamm für Siemens-Arbeiter

Die Turmstraße wurde 1827 angelegt, der östliche Teil sogar schon 1650. Hier befindet sich auch eine ganze Reihe von bedeutenden Verwaltungsbauten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, darunter das Krankenhaus Moabit und das „Kriminalgericht Moabit“, wo heute verschiedene Abteilungen des Amts- und Landgerichts sowie die JVA untergebracht sind.

Wer den Flair des Kiezes entdecken will, muss um Ecken und durch Türen gehen.

1891 erhielt der florierende Industriestandort zur Versorgung der schnell wachsenden Bevölkerung eine moderne Einkaufsstätte: die Arminiusmarkthalle. Als eine der wenigen historischen Markthallen Berlins ist sie bis heute erhalten. 2010 wurde sie komplett umgebaut. Nach dem Mauerbau und in den 1960er und 1970er Jahren florierte die Turmstraße. Die Arbeiter der umliegenden Firmen fanden hier alles, was das Herz begehrt, zu günstigen Preisen. Zu dieser Zeit wurde die Turmstraße autogerecht umgebaut. Die Straßenbahn wurde stillgelegt und die Fahrbahn von 11 auf 18 Meter verbreitert. Mit den veränderten Konsumgewohnheiten und dem Wegzug gut verdienender Bevölkerungsschichten nach dem Mauerfall 1989 begann der Niedergang. Viele Läden mussten schließen, Spätis und Spielhallen machten sich breit. Tiefpunkt war die Schließung des Kaufhauses Hertie im Jahre 2009.

Text: Birgit Leiß,
Fotos: Sabine Mittermeier

Zuerst erschienen im MieterMagazin, Ausgabe Oktober 2017 in der Reihe Berliner Geschäftsstraßen (5). Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.

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