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Instant-Kiez an der Heidestraße

Felix Yaparsidi und Valentin Ott gewannen mit „Instant-Kiez“ den mit 5000 Euro dotierten Architekturpreis 2010 des Kulturkreis der deutschen Wirtschaft, indem sie „Antworten auf nicht gestellte Fragen“ gaben. Mit „Instant-Kiez“ entwickelten die  Studenten der Universität Stuttgart ein Zwischennutzungskonzept für das Heide­straßenquartier, ohne jedoch dabei gegen den 2009 festgelegten „Masterplan“ des Kölner Planungsbüros ASTOC zu arbeiten.

Eigentlich war es Aufgabe des Wettbewerbs das als „Quartier am Nordhafen“ bezeichnete Gebiet am nördlichen Rand des Heidestraßenquartiers mit der Umgebung zu verbinden, eine Beziehung zum Bayer-Schering-Areal auf der anderen Seite des Nordhafens herzustellen und eine Anbindung an die geplante Bebauung des Gesamtareals Heidestraße zu entwickeln. Für den nördlichen Eingang einer Bahnstation der künftigen S21 sollte „in einer hochbaulichen Vertiefung“ ein Gebäude entworfen werden, „das die anspruchsvolle städtebauliche Situation und die unterschiedlichen Höhenverhältnisse von Bahnsteig, Perleberger Brücke und Wettbewerbsgelände miteinander verbindet und das für das Gebiet interessante weitere Nutzungen aufnehmen kann.“

Die Umsetzung des Masterplans wird schätzungsweise bis zu 40 Jahren brauchen, hatten die Studenten im Workshop zu Beginn des Wettbewerbs erfahren. Dies war für Felix Yaparsidi und Valentin Ott Anlass, sich von der gestellten Aufgabe zu entfernen und Ideen für den Zwischen-Zeit-Raum „als Humus für den neuen Stadtteil“ zu entwickeln. Den beiden Studenten war dazu der Blick auf die Nachbarschaften und die Problemstellungen in den angrenzenden Quartieren wichtig. Sie analysierten Nutzungsideen zu Freizeit, Kultur und Wirtschaft, stellten zeitliche Überlegungen für Nutzungen an. Überlegungen zu Finanzierungsmöglichkeiten und die Integration der Bewohner aus der Nachbarschaft gehörten ebenfalls zu ihren Betrachtungen.

Valentin Ott ...

und Felix Yaparsidi erläutern ihre Überlegungen

Daraus entwickleten Yaparsidi und Ott konkrete Zwischennutzungsideen: so schlagen sie an dem Ort, wo im Masterplan ein neues Hafenbecken am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal entstehen soll, vor, schon bald ein Becken auszuheben – für ein neues Freibad als Attraktor des Gebiets und zunächst noch abgetrennt vom Kanal. Erst mit der letzten Umsetzungsphase des Masterplan soll dann das Becken mit dem Schifffahrtskanal verbunden werden, vielleicht hat bis dahin ja das Wasser des Kanals auch Badewasserqualität… Südlich des Becken bis hin zum „Kunst-Campus“ sehen die Studenten einen wiederum temporären Ausweichstandort für den Zeltplatz „Tentstation“ vor. Die ehemalige LKW-Wendeschleife des Containerbahnhofs könnte für einige Zeit zum Standort einer Go-Kart Bahn werden, das vom Masterplan vorgegebene Straßenraster zunächst als Blumenwiese bepflanzt werden. Ein „Instant-Baumhain“ dient dem Aufziehen von Bäumen in großen Pflanztrögen, manche davon können später an anderen Stellen im Heidestraßenquartier ihren dauerhaften Standort bekommen. Ein Maisfeld dient als temporärer Irrgarten, entlang der Bahntrasse werden Nachbarschaftsgärten angelegt und in der Nähe des Nordhafens könnte Gastronomie untergebracht werden. Das zeitweilig bei den „Treptowers“ als bedroht geltende Badeschiff könnte im Nordhafen untergebracht werden. Auch Felder für sportliche Nutzungen sieht das Konzept vor. Für ein Gründerzentrum, möglicherweise im Pharmabereich schlagen sie einen Start über Containerbauten vor.

Turmbau zu Moabit?

Die Größe des Gesamtgebietes bedeutet aber auch ein Problem der Maßstäblichkeit. Die beim Abriss des Palastes der Republik als letztes noch stehenden archaischen Treppentürme waren Inspiration für Yaparsidi und Ott,  eben Treppentürme als „Vor-Ausbau“ auf dem Heidestraßenquartier  anzuordnen, diese sollen als Konzentrationspunkte für die Zwischennutzungen funktionieren und die Maßstäblichkeit der Fläche herunter brechen. Im Zuge der Realisierung des Masterplans können die Türme „aufgesogen“ werden, sie sind sowohl als integraler Bestandteil von Gebäuden oder auch als Solitäre entwickelbar. Für die Türme haben die beiden Studenten einen Fundus von Typen entwickelt, die sie als zusammengehörig erscheinen lassen. Ein Ausstellungsturm, ein Kletterturm, eine Kapelle, ein Sprungturm (am Freibad), zwei Treppentürme als Erschließungstürme des (Container-) Gründerzentrums, ein Kletter-/Spielturm, ein Graffititurm, ein Tribünenturm und ein Grünturm. Letzterer soll im Nordhafenbecken stehen und im Laufe der Jahre vom Grün am Nordhafenbecken umwuchert werden. Wichtig an den Turmentwürfen ist, dass sie robust und für wenig Geld zu realisieren sind. Eine Sonderposition unter den Türmen bildet der räumlich größte, mit dem die Studenten dann doch noch auf einen Punkt der Wettbewerbsausgabe eingehen: Er bildet die Grundlage des Gebäudes am S-Bahn Halt der künftigen S21 und liegt zwischen den dann zwei „Overflys“ von Fern-/Regionalbahn bzw. künftige S-Bahn, die über die Perleberger Brücke führen. Inmitten dieses verkehrsumbrandeten Gebietes soll der Turm einen ruhigen geschützten Raum vermitteln, in dem aber auch Veranstaltungen stattfinden könnten. In einem sechsstufigen Phasenmodell stellen Yaparsidi und Ott ihr Szenario der Entwicklung des Gebiets mit Zwischennutzungen bis zu einer kompletten Umsetzung des Masterplans dar.

Phase 1 ...

... und Phase 4

Die Jury des Wettbewerbs lobte den „außerordentlich klugen und kreativen Vorschlag der Verfasser, die Zwischennutzung der Fläche als Prozess zu gestalten, anstatt sich auf das Design eines fertigen, in sich geschlossenen Architekturobjektes zu konzentrieren.“ Ob die Eigentümer der Grundstücke des Heidestraßenquartiers Vivico und Deutsche Bahn AG die konkreten Vorschläge der Zwischennutzungen aufgreifen werden, haben diese bisher nicht verlautbart, wenngleich sie in der Wettbewerbsjury, die ihren Entscheid einstimmig fällte, vertreten waren.

Dass die Jury diesen Entwurf als Sieger kürte, der deutlich von der Wettbewerbsaufgabe abwich, ist dem Vernehmen nach erheblich beeinflusst dadurch, dass eine andere Arbeit noch viel radikaler mit der gestellten Aufgabe brach:

Anne Verena Becker und Martina Hils produzierten den Film "Das UmQuartier am Nordhafen"

Anne Verena Becker und Martina Hils, Studentinnen an der Akademie der Bildenden Künste der Uni Mainz, fertigten keine Planungsentwürfe, sondern produzierten vielmehr den 14-minütigen Kollagenfilm „Das UmQuartier am Nordhafen“, der  Positionen von aktiven AnwohnerInnen und Gewerbetreibenden der Lehrter Straße in Bild und Ton setzt. Bei zwei kurzfristig angesetzten gut besuchten Vorführungen der 28-minütigen Lang­fassung des Films am 10. und 11. Mai im B-Laden in der Lehrter Straße 27-30 nutzten die Gäste die Gelegenheit, zusammen mit Anne Verena Becker über die Planungen im östlichen Moabit und den Film zu diskutieren. Wer diese Vorführungen verpasst hat, kann sich den Film während der Öffnungszeiten des B-Ladens (Montag + Donnerstag von 15-19 Uhr) ansehen.

"Residuality" erhielt eine Anerkennung für die künstlerische Position

Zusätzlich zum Hauptpreis vergab die Wettbewerbsjury zwei mit je 2000 Euro dotierte Förderpreise, die wie schon der Hauptpreis an 2-Personen-Teams gingen: Gundula Geising und Anne Jauch für den Entwurf „HOCH3“ sowie Charlotte Eller und  Florian Krampe für den Entwurf „Zwischen-Raum“. Auch diese Teams sind Studenten der Uni Stuttgart. Eine Anerkennung für die künstlerische Position seines Beitrags „Residuality“ erhielt Eric Cusminus von der Akademie der Bildenden Künste an der Universität Mainz, er entwarf ein Bahnhofsgebäude zur S-21  an der Perleberger Brücke in Wiederverwendung von Bestandteilen abgerissener Gebäude.

Bis zum Sommer wird der Kulturkreis der deutschen Wirtschaft eine Dokumentation zum Wettbewerb erstellen und will dann auch erneut der Öffentlichkeit Gelegenheit geben, selber die Ergebnisse anzusehen – allerdings in Chemnitz anlässlich der im Oktober 2010 stattfindenden Jahrestagung des Kulturkreises.

Nachtrag vom 31.05.2010
Zwischenzeitlich sind auf dem Architekturportal „Arch Daily“ zahlreiche Visualisierungen der Wettbewerbsgewinner Felix Yaparsidi und Valentin Ott veröffentlicht.

ihren dauerhaften Standort

6 Kommentare auf "Instant-Kiez an der Heidestraße"

  1. 1
    vilmoskörte says:

    Gibt es denn von Anne Verena Becker und Martina Hils die Absicht, den hervorragenden Film im Internet zur Verfügung zu stellen, z.B. auf YouTube oder einem der anderen Videoportale?

  2. 2
  3. 3
    nachbarin says:

    gut der Spiegel,
    Berliner Tageszeitungen haben das bis auf die B.Z. leider ignoriert:
    http://www.bz-berlin.de/bezirk/tiergarten/der-turmbau-zu-moabit-article839426.html

  4. 4
    Jürgen Schwenzel says:

    Zwischenzeitlich sind auf dem Architekturportal “Arch Daily” zahlreiche Visualisierungen der Wettbewerbsgewinner Felix Yaparsidi und Valentin Ott veröffentlicht.

  5. 5
    R@lf says:

    Hier haben einmal zwei junge Menschen eine Bresche in das Planer- und Architektureinerlei geschlagen und mit wenig Aufwand (ohne ein großes Büro im Rücken) und viel spirit vorgemacht, wie Stadtplanung denken und an die Umsetzung von Projekten gehen könnte.
    Das heißt nicht, daß alles 1:1 so umgesetzt werden sollte oder könnte, wie die beiden Preisträger es vorschlagen, und daß nicht zusätzliche und teils andere Lösungen möglich und wünschenswert wären. Aber ihre Herangehensweise weist den richtigen Weg zur Entwicklung des Geländes, ohne eine möglicherweise jahrzehntelange Totbrache zu riskieren. Einige der Vorschläge sind mit wenig Geld sofort umsetzbar, passen teils sogar ins bisherige Konzept und bringen umgehenden Nutzen für die Gemeinschaft. Sie produzieren positive image-spots, die auf die sympathischere Seite Berlins verweisen, die auszubauen und vor allem nicht zu verlieren wäre.

    Mir scheint, daß die Preisträger prädestiniert wären, studienbegleitend (warum nicht an der TU Berlin) zusammen mit den AnwohnerInnen ein neues Beteiligungsmodell zu entwickeln, das beispielgebend auch für andere Städte sein könnte. Diese weiterführende Arbeit könnte in ihren Studienabschluß einfließen.
    Ihr Vorschlag beweist, daß sie sich im Gegensatz zu anderen PlanerInnen sozial wie stadtplanerisch mit dem Wettbewerbsgebiet auseinandergesetzt haben und einwohnerInnengemäße bedürfnisgerechte Lösungen gesucht haben. Eine solche Spur wäre auszubauen und weiterzuentwickeln.

    Wenn in diesem Geist letztendlich auch die einigermaßen behutsame Neubebauung des Geländes erfolgt, könnten kreative und zukunftsweisende Lösungen gefunden und umgesetzt werden. Auf diese Weise könnten auch Synergien freigesetzt werden, die der Stadt und einem innovativen sozial-ökologischen Bauen dienlich sind und die Berlin helfen würden, wieder einen richtungsweisenden Nimbus zu erwerben, wie ihn die Stadt zuletzt in den 1920er Jahren hatte (siehe Weltkulturerbe).

  6. 6
    vilmoskörte says:

    R@lf, es geschehen noch Zeichen und Wunder: Hier bin ich ganz und gar deiner Meinung.

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