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[6] Ein Bolle-Junge erzählt

Quelle: „SED Tiergarten: Das war Moabit“

Es war noch lange vor dem ersten Weltkrieg, als ich mit 13 Jahren aus der Schule entlassen wurde und bei Bolle Milch auszutragen begann. Jeden Morgen, auch sonntags, musste ich zusammen mit 250 weiteren Jungen im blauen Kittel, mit der Bolle-Uniformmütze auf dem Kopf, in blankgeputzten Stiefeln, auf dem Hof in Alt-Moabit militärisch antreten. Dann ging es bis in die frühen Nachmittagsstunden mit der Klingel auf die Höfe und mit den Milchkannen treppauf und treppab.
Dafür erhielt ich ganze 3,90 Mark in der Woche, die sich nach einem Jahr um eine Mark erhöhten.
Für die geringste Kleinigkeit, wie Zuspätkommen, unordentlicher Anzug, Fehler bei der Arbeit, wurden Geldstrafen erhoben. Auch wer sonnabends nach Arbeitsschluss nicht zum Instruktionsappell mit anschließendem Kirchgang erschien, dem wurden 0,50 bis 1 Mark abgezogen oder er musste Strafarbeit leisten.
Wie oft haben ich und viele andere Jungen dann bei der Predigt in der extra für die Belegschaft gebauten Kirche geschlafen und wurden erst wieder durch den, von einem Militärmusikmeister geleiteten, Posaunenchor unsanft aufgeweckt.
Auch später, als Kutscher, war meine Lage alles andere als rosig. Ich musste schon um 3 Uhr morgens auf dem Hof erscheinen und hatte natürlich durch das Besorgen der Pferde und das Abrechnen noch später Feierabend als die Jungen. Dafür erhielt ich den „fürstlichen“ Wochenlohn von 21 Mark und ab 45 Tageskasse eine Provision von zwei Prozent.
Wie lohnend Bolles Ausbeutermethoden in dieser „guten alten Zeit“ waren, zeigt, dass er 1880 in der Lützowstraße mit drei Milchwagen anfing und 1910, als er als Kommerzienrat und mehrfacher Millionär starb, nicht weniger als 297 Wagen zu laufen hatte.
1910 traten 200 Bolle-Jungen in den Streik. Ganz Berlin hatte an diesem Tage keine Milch.
Als nach dem ersten Weltkrieg das Bolle-Unternehmen von Werhahn übernommen wurde, mussten wir vierzehn bis sechzehn Stunden arbeiten, wozu noch oftmals eine Überstunde kam.“

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