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Wie war Moabit und wie soll’s werden?

Mit ihren Kommentaren beteiligen sich viele MoabitOnline – Leser an der Diskussion über neue Planungen für unseren Stadtteil. Oft sind Erwartungen und Wünsche an Aufwertung und Verbesserung des Lebensumfelds in Moabit damit verbunden. Wieder andere äußern Befürchtungen, dass alles „schick gemacht wird für Besserverdienende“, und sie selbst mit der ärmeren Bevölkerungsschicht verdrängt werden. Bereits vor mehr als 2 Jahren entbrannte unter dem Artikel „tip fälscht Moabit-Titelbild“ eine zum Teil wütend geführte Diskussion. Diese versuchte Aro mit seinem Artikel „Was ist und was wird?“ in eine sachlich konstruktive Auseinandersetzung zu transformieren.

Bei den neueren Kommentaren – sei es beim Artikel „E-Center kommt„, „Wem gehört Moabit?“ oder „Luxusmodernisierung auch im Stephankiez“ – ist die Auseinandersetzung wieder aufgelebt. Sie hat sich aber auch noch einmal verändert. Nicht nur neu Zugezogene beschreiben Verwahrlosung und unattraktive Ladengeschäfte, auch ein Teil der langjährigen Bewohner erinnert sich gerne an bessere Zeiten und beklagt den Niedergang. Nicht nur die Zukunft auch die Vergangenheit Moabits wird vollkommen unterschiedlich eingeschätzt. Ich persönlich kann Behauptungen, dass sich die Lebensqualität in den letzten 30 Jahren verschlechtert hätte, nicht nachvollziehen und glaube daran, dass Moabit unweigerlich immer gefragter wird, dass es nicht längst schon soweit war, darüber hatte Martenstein sich schon vor 3 Jahren gewundert.

Zur Illustration dokumentieren wir hier die „Moabiter Spaziergänge“ aus der Zitty von 1988 und bedanken uns für die Abdruckgenehmigung:

Von offizieller Seite wird versucht, das Ausmaß der Armut in Tiergarten her­unter­zuspielen. „Zeigen Sie mir einen echten Armen in Moabit“, forderte Stadtrat Westhäuser vor einiger Zeit Reinhard Ebner vom Diakonischen Werk auf. Es ist keine Schwierigkeit den Spuren der Armut zu folgen. Sie sind überall nördlich der Turmstraße aufzufinden und in Tiergarten-Süd rund um die Pohlstraße.

Beusselstraße: LKWs und Lieferwagen bestimmen das Leben. Sie steuern den Beusselmarkt an, um die Zwei-Millionen-Stadt mit Frischfleisch, Obst und Gemüse zu versorgen. An der Peripherie des Fruchthofes trifft man Flüchtlinge und Arbeitslose, die im Morgengrauen angegammelte, weggeworfene Lebensmittel bunkern und mit gefüllten Plastiktüten, Kinderwagen und Rucksäcken über die Beusselbrücke zurück in den Kiez ziehen. Immer auf der Hut vor dem Aufsichtspersonal.

Statistik: In Tiergarten starben 1986 pro 100.000 Einwohner 18 Menschen bei Straßenverkehrsunfällen. Der West-Berliner Durchschnitt liegt bei 8 Verkehrstoten.

Emdener Straße: Heruntergewirtschaftete Häuser werden mit Vorliebe an palästinensische und libanesische Flüchtlinge vermietet. Stickige, muffige Treppenhäuser zeugen von der Überbelegung der Wohnungen. 55 Quadratmeter Wohnraum für neun Personen bieten keinen Raum für soziale und gesundheitliche Entfaltung. Die Flüchtlinge haben die Straße für sich erobert und prägen sie mit ihrem Lebensgefühl. Es kommt zu Übergriffen stramm-deutscher Nachbarn. Bisheriger Höhepunkt: Vor zwei Jahren wurden Palästinenser mit dem Auto über Bürgersteige gejagt und die Beine eines Opfers an der Hauswand zerquetscht. Türkische und palästinensische Jugendliche schließen sich zusammen, um ihren Kiez zu verteidigen.

Statistik: In Tiergarten erkrankten von 100.000 Einwohnern 101 Menschen an aktiver Tuberkulose. West-Berliner Durchschnitt: 60.

Quitzowstraße: Gegenüber dem Stephankiez liegt das Kraftwerk Moabit. Es überzieht die Straßen, Häuserfassaden, Dächer und Lungen der Menschen mit einem schmierigen Film aus Öl und Staub. Hier ist der Bestand an schlecht beheizbaren Bruchbuden besonders hoch.

Statistik: In Tiergarten starben 1986 von 100.000 Einwohnern 209 Menschen an Erkrankung der Atemwege. Städtischer Durchschnitt: 155.

Perleberger Straße: In der Hausnummer 16 wohnt Frau B. seit 1982 mit ihrem zuckerkranken Sohn. „Seit Sommer 1987 sind zwei Zimmer der Wohnung baupolizeilich gesperrt, da die Fußbodendielen durchbrechen, die überaltete Elektrik defekt ist. Die Fensterscheiben drohen aus den Rahmen zu fallen. „In der Dreieinhalbzimmerwohnung läßt sich nur ein Kachelofen richtig heizen. Ich habe Angst vor dem nächsten Winter.“ Die GASAG hat vor einigen Monaten den Gaszähler demontiert, nachdem der Gasofen in die Luft ging und der Vermieter sich weigert, einen neuen zu installieren. „Der warf mir vor, den Herd mutwillig zerstört zu haben.“ Das Sozialamt zog bereits bewilligte Gelder für eine Wohnungsrenovierung wieder zurück, nachdem sich der Vermieter weigerte, einen Eigenbeitrag zu leisten. Eine vom Wohnungsamt Tiergarten angebotene Wohnung in der Lehrter Straße lehnte Frau B. ab. „Sie war so feucht und schimmelig, dass ich es vorzog, erst einmal hier zu bleiben.“

Statistik: Tiergarten ist mit Kreuzberg der Bezirk mit der größten Mobilität. Jeder vierte Tiergartener wechselte 1986 die Wohnung. In Berlin West war es nur jeder siebte.

Lehrter Straße: Hier liegt der zur Zeit berüchtigste Slum Tier­gar­tens. Den Untergang des Lehrter Kiezes besiegelten die Pläne zum Bau der Westtangente, dem ein Teil der Straße zum Opfer fallen sollte. Die Autobahn ist zwar nicht gebaut, aber die Häuser inzwischen so herunterge­kom­men, daß für einige nur noch der Abriß in Frage kommt. Der Straßenzug hat seinen eigenen Charme. „Seit einiger Zeit löst sich hier ein Filmteam nach dem anderen ab, um den Bronx-Effekt einzu­fangen“, erzählt ein Anwohner.

Die Hausnummer 51, ein Haus von vielen. Das Hinterhaus und der Seitenflügel stehen seit 1983 leer. Die Fenster sind herausgerissen, die Fallrohre abmontiert. Im Vorderhaus wohnt seit 1976 Herr H. zunächst im ersten Stock. „Aber da musste ich ausziehen, weil die Wohnung kalt und feucht war.“ Seine jetzige Wohnung ist nicht viel besser. Die Wände sind feucht und die Farbe blättert von der Küchendecke. Im Treppenhaus brechen die maroden [im Text steht: modernen, vermutlich ein Tippfehler!] Stufen zusammen, zerschlagene Fensterscheiben sind notdürftig mit Sperrholzplatten vernagelt, Treppengeländer herausgerissen. „Im Winter brauche ich drei Tonnen Kohlen um 65 Quadratmeter zu heizen, aber warm wird es auch nicht. Meine Kinder wurden krank und haben chronische Bronchitis.“ Den nächsten Winter wird Herr H. zwangsläufig in einem anderen Haus verbringen. Einen Tag nach dem Interview, am 8.9. bricht gegen 19 Uhr im Dachgeschoß des Hinterhauses ein Feuer aus, das sich über den Seitenflügel bis ins Vorderhausdach fraß. Die Bewohner des Hauses wurden evakuiert.

Das Nachbarhaus, die Nummer 52 ist wie die Nummer 51 Eigentum der Erbengemeinschaft Kressner, vertreten durch die Wohnungsverwaltung Haberent [Anmerkung: vermutlich handelte es sich um die Hausnummer 50, denn die 52 war damals eine Baulücke, die Haberent mit einem Neubau bebaut hat]. Die Eigentümer boten einem Mieter aus dem vierten Stock „ein paar Tausend Mark“ für den Auszug, um die Renovierungskosten für die Dachreparatur zu sparen. „Die andere Wohnung im vierten Stock“, so ein Mieter des Hauses, „ist bereits ausgebrannt.“ Häuser auf der gegenüberliegenden Seite sind mit Fußgängertunnels versehen, um Passanten vor der abbröckelnden Fassade zu schützen. In anderen Häusern sind die Erdgeschoßwohnugen vernagelt und baupolizeilich gesperrt. Sie sackten in den Keller ab. Weht der Wind aus dem Osten über die Fennbrücke von Schering herab, wird die Luft von einem Penicillingeruch durchwürzt.

Statistik: 1986 starben in Tiergarten je tausend Lebendgeborener 21 Säuglinge. Im Berliner Durchschnitt 12,5. Im BRD-Durchschnitt 9. Im europäischen Vergleich wird Tiergarten bezüglich der Säuglingssterblichkeit nur noch von Jugoslawien und Rumänien übertroffen. 1983 wurde die Kinderstation im Krankenhaus Moabit geschlossen. In den folgenden Jahren stieg die Säuglingssterblichkeit kontinuierlich an.

Moabit durchzieht der Geruch von Alkoholfahnen und Hundekot. Der Verkehrslärm, der sie (sic!) durchziehenden Nord-Süd-Verbindungen, tönt durch das Armenhaus Berlins. Doch noch besitzt Moabit keine Hochbahn, die Elendstouristen einen schnellen, distanzierten Blick voller Exotik auf das Viertel ermöglicht, wie in SO 36. Kein Gewaltpotential, das es pfiffigen Sozialarbeitern erleichtert, ihre Projektideen in den Senatsverwaltungen durchzusetzen. Die, mit Aus­nah­men, wenig aufgeschlossene Verwaltung des Bezirksamtes Tiergarten, unternimmt Vieles, eine aufkeimende Identifizierung mit dem Leben im Stadtteil zu verhindern.

Utopien – Mangelware
Arbeitslose, Isolierte, Kranke und sozial Deklassierte sind in Tiergarten weitgehend auf sich alleine gestellt und haben weder von offizieller noch alternativer Seite viel zu erwarten. In den vergangenen Jahren fehlte das lebendige, alternative Milieu von Schöneberg und Kreuzberg, das dort ein libertäres Umfeld schuf, in dem Beratungsstellen, Beschäftigungsprojekte, Jugendwohngemeinschaften und kulturelle Zentren sich Gehör verschaffen und wachsen konnten, und damit die schlimmsten Auswirkungen der sozialen Verelendung abfederten. Das „Nachbarschafthaus Huttenstraße“ und das Ausbildungsprojekt „Werkschule“ sowie das Arbeitslosenzentrum „BALZ“ bleiben dabei rühmliche Ausnahmen.

Anfang der achtziger Jahre gab es in Moabit ein paar hoffnungsfrohe Ansätze aus der Hausbesetzerbewegung, der sozialen Misere des Stadtteils eine lebendige Utopie entgegenzusetzen. Noch Mitte der Achtziger Jahre war es im größten Selbsthilfeprojekt Tiergartens, der Jagowstraße 12 möglich, dass Alkoholiker, Sozialhilfeempfänger, Flüchtlinge, Akademiker, Arbeiter und Studenten unter einem Dach lebten und arbeiteten. Das Experiment fiel der Modernisierung zum Opfer. Mit dem Fortschritt der Instandsetzungsarbeiten wurden die „Sozialfälle“ allmählich untragbar und mit mehr oder weniger sanftem Druck aus dem Haus komplimentiert. Heute wird die neu entstandene alternative Behaglichkeit von gesetzteren Bewohnern aus dem akademischen Umfeld besetzt. Einen ähnlichen Verlauf nahm das Selbsthilfeprojekt in der Wilsnacker Straße 15, das sich mit der Strahlenmessstelle und dem Luftladen einen Namen in Berlin machte. Auch hier wurden die aus der biederen alternativem Norm fallenden Bewohner in die Moabiter und Kreuzberger Wüste geschickt und durch Jungakademiker ersetzt.

Text: Eberhard Seidel aus Zitty live Magazin, 21, 1988, S. 18/19
Foto aus der Zitty (das oberste): H. P. Stiebing/Zenit. Die beiden anderen Fotos hat Sigurd Wendland aufgenommen. Sie sind in seinem Buch „Moabit – Licht und Schatten“ zu finden, wir danken für die Abdruckgenehmigung, die er uns anläßlich der Löwen vom ULAP für seine Fotos gegeben hat.

2 Kommentare auf "Wie war Moabit und wie soll’s werden?"

  1. 1
    Armin Bläse says:

    Ich danke dir, Susanne, für diesen Artikel aus der wahrscheinlich nicht dunkelsten Zeit aus Moabit. Es ist lange her, einige Passagen könnte man jedoch in die Gegenwart zitieren, weil sie immer noch Gültigkeit haben. Gruss, Armin

  2. 2
    Zeitungsleser says:

    Ein Kind aus der Lehrter Straße ist Geschäftsführer des Bildungswerks Kreuzberg und im Kuratorium der Eberhard-Schulz-Stiftung für soziale Menschenrechte, Nihat Sorgec. Er kommt 1972 mit 14 Jahren nach Deutschland, Berlin, in die Lehrter Straße, eine ziemliche Enttäuschung: „Es war grau, wir wohnten im dritten Hinterhof, Einzimmerwohnung, Ofenheizung, düster. Man kam sich vor wie ein Mensch der dritten oder vierten Klasse.“

    http://www.taz.de/Montagsinterview-mit-Nihat-Sorgec/!5139263/

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